NZZ, 21.1.2017
Invalidenversicherung - Arbeitsfähig auf dem Papier, chancenlos in der Realität
GASTKOMMENTAR von Andrea Mengis
Viele Menschen, die ihre Rente verloren haben, finden mittel- und langfristig keine Stelle.
Das Problem bei der IV löst sich nicht mit einer Verlagerung anfallender Kosten in die Sozialhilfe. Menschen mit Behinderungen müssen wieder eine echte Chance für eine Anstellung erhalten.
Was ein IV-Rentner ist, darüber kursieren viele Vorurteile und falsche Vorstellungen. Die meisten Menschen denken dabei an eine Person, die kognitiv beeinträchtigt oder auf einen Rollstuhl angewiesen ist. Es gibt aber auch viele Personen, denen man ihre Behinderung auf den ersten Blick nicht ansieht. Sie sind jedoch genau gleich über die IV versichert. Leider kommt es immer wieder vor, dass Menschen mit solchen unsichtbaren Behinderungen von Nachbarn oder Bekannten bei der IV angeschwärzt werden. Auch in den Medien dominieren Berichte über sogenannte «Scheininvalide» und IV-Betrüger.
Wer im Garten Rasen mäht, ist nicht unbedingt auch arbeitsfähig
Ein Klient des Rechtsdienstes von Procap wurde beispielsweise bei der IV gemeldet, weil er nach Mallorca in die Ferien fuhr. Es zeigte sich, dass der Rheumatologe den Aufenthalt im Süden empfohlen hatte, weil sich die Krankheit dort weniger stark auswirkte. Auch bei psychischen Erkrankungen empfehlen die Therapeuten oft Aktivitäten draussen, um das Krankheitsbild zu stabilisieren und zu verbessern. Also genau das Gegenteil vom klassischen Bild eines Kranken, der am besten den ganzen Tagen hinter verschlossenen Vorhängen im Bett liegt. Wer im Garten sitzt oder den Rasen mäht, ist nicht unbedingt auch arbeitsfähig. Das Gleiche gilt für eine MS-Patientin, die zwar einkaufen gehen oder die Wäsche aufhängen, sich aber wegen der starken Ermüdung nicht länger als eine Stunde konzentrieren kann. Denn multiple Sklerose wird heute dank neuen Medikamenten später im Körper sichtbar, hat aber viele unsichtbare Auswirkungen wie Muskelschwäche und Empfindungsstörungen, Sehstörungen, kognitive Einschränkungen, Blasen- und Darmstörungen und natürlich Schmerzen.
Missbräuche müssen selbstverständlich bekämpft werden. Sie machen aber laut den Angaben des Bundesamtes für Sozialversicherungen (BSV) weniger als ein Prozent der IV-Leistungsbezüger aus. Als Anwältin des Rechtsdienstes von Procap berate ich viele Menschen mit Behinderungen in sozialversicherungsrechtlichen Fragen und beobachte, dass der Druck auf IV-Leistungsbezüger seitens der Behörden generell verstärkt wird. Bei den Eingliederungsmöglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt sieht es jedoch für Menschen mit einer Behinderung schlecht aus. Die meisten unserer Ratsuchenden möchten im Rahmen ihrer gesundheitlichen Möglichkeiten sehr gerne wieder arbeiten, weil sie in der Erwerbstätigkeit Sinn und soziale Anerkennung finden. Aber welcher Arbeitgeber stellt eine Sekretärin ein, die jeden Morgen und jeden Nachmittag eine halbe Stunde Pause braucht, wenn er daneben unter 50 anderen Bewerberinnen ohne gesundheitliche Probleme auswählen kann? Das Hauptproblem für Menschen mit Behinderungen sind die fehlenden Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Das gilt in einem besonderen Ausmass für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen. Ihre berufliche Integration gestaltet sich oft schwierig, denn sie erfordert viel Verständnis und Flexibilität vom beruflichen Umfeld. Dieses Engagement können oder wollen viele Arbeitgeber nicht leisten.
Ein Grundproblem liegt im Gesetz: Bei der IV gilt nämlich jemand schon als beruflich eingegliedert, wenn er wieder «arbeitsfähig» ist, also unter Berücksichtigung seiner gesundheitlichen Einschränkungen potenziell die Möglichkeit hat zu arbeiten – die Person verliert die Rente, hat aber in der Realität noch keine Stelle.
Ziel der letzten IV-Revision war es, 17 000 Menschen mit einer Behinderung wieder in den Arbeitsmarkt einzugliedern und die Anzahl der Renten um 12 500 zu senken. Während der Rentenbestand in den letzten Jahren tatsächlich stark gesunken ist, gibt es von offizieller Seite leider keine Zahlen dazu, wie viele der Betroffenen tatsächlich wieder in der Arbeitswelt Fuss fassen konnten. Viele Menschen, die ihre Rente verloren haben, finden mittel- und langfristig keine Stelle und können darum ihren Lebensunterhalt nicht selbständig decken. Ein Grundproblem liegt im Gesetz: Bei der IV gilt nämlich jemand schon als beruflich eingegliedert, wenn er wieder «arbeitsfähig» ist, also unter Berücksichtigung seiner gesundheitlichen Einschränkungen potenziell die Möglichkeit hat zu arbeiten – die Person verliert die Rente, hat aber in der Realität noch keine Stelle. Die IV ist auch nicht dafür verantwortlich, ihren Versicherten eine Stelle zu vermitteln.
Umdenken ist nötig
Unsere Gesellschaft produziert mit den immer höheren Leistungsansprüchen auch ihre eigenen Kranken, die Krankheitskosten sind in den letzten Jahren stark gestiegen, nicht nur bei der IV. Während die steigenden Kosten bei der Krankenversicherung mit empfindlichen Prämienerhöhungen aufgefangen werden, ist die IV seit Jahren unterfinanziert, und die Politik will noch weiter sparen.
Ein Umdenken ist nötig. Das Problem bei der IV wird nicht mit einer Verlagerung der anfallenden Kosten in die Sozialhilfe gelöst, sondern erst, wenn Menschen mit Behinderungen wieder eine echte Chance für eine Anstellung erhalten. Wenn die neuen Instrumente der IV für Arbeitgeberanreize auf freiwilliger Basis nicht ausreichen, wird man nicht darum herumkommen, sich mit gesetzlichen Pflichten (z. B. Quoten) auseinanderzusetzen. Wie viele Personen mit gesundheitlichen Einschränkungen arbeiten in Ihrer Firma?
Andrea Mengis ist Rechtsanwältin beim Rechtsdienst von Procap Schweiz.