bernerzeitung.ch, 24. August 2013
Weniger Erfolg für IV-Beschwerden
Ein Mann, dem ein Hirntumor entfernt worden war, wehrte sich gegen die Aufhebung der IV-Rente – mit Erfolg. Nur rund ein Drittel der Gerichtsurteile im Kanton Bern fallen ganz oder teilweise zugunsten der IV-Bezüger aus.
Von Herbert Rentsch. Aktualisiert am 23.08.2013
Wer hat Anrecht auf eine Invalidenrente? Sind die Ansprüche von Bezügern berechtigt oder nicht? Solche Fragen führen in den Medien immer wieder zu Schlagzeilen – und bei Betroffenen zu Rechtshändeln. Denn die einzige Möglichkeit, sich gegen Entscheide der IV-Stellen zu wehren, besteht darin, beim Verwaltungsgericht eine Beschwerde einzureichen.
Zwischen 600 und 850 solche Eingaben gelangen pro Jahr dorthin. Mehrheitlich geht es um Renten, die eine IV-Stelle nicht gewährt, gekürzt oder ganz gestrichen hat. Die Chance, dass IV-Bezüger recht erhalten, ist in den letzten Jahren kleiner geworden: Ein Drittel der materiellen Urteile gehen ganz oder teilweise zugunsten der Beschwerdeführer aus.
Recht erhalten hat vor kurzem ein IV-Bezüger aus dem Seeland. Der Handwerker hatte sich 2005 bei der IV-Stelle Bern gemeldet, nachdem ihm ein Hirntumor entfernt worden war. Er machte geltend, er habe Schwindel, Kopfschmerzen, sehe Doppelbilder und leide unter einer allgemeinen Muskelschwäche. Medizinische Abklärungen inklusive eines neurologischen Gutachtens ergaben, dass der Mann arbeitsunfähig war. Die IV sprach ihm für ein Jahr eine ganze Rente zu, danach eine Dreiviertelrente.
Tumorpatient erhielt rechtVier Jahre später leitete die IV-Stelle Bern jedoch ein Revisionsverfahren ein, weil sich kein Tumor mehr gebildet hatte. Der Versicherte gab an, sein Gesundheitszustand sei aber gleich geblieben oder habe sich eher verschlechtert. Ihm wurde aber eröffnet, die frühere Rentensprechung sei ein falscher Entscheid gewesen. Die IV strich dem Mann die Rente.
Dagegen erhob der Handwerker Beschwerde – und erhielt vom Verwaltungsgericht recht. Es entschied, der Gesundheitszustand des Patienten dürfe Jahre später nicht ganz anders als früher eingestuft werden. Denn die ärztlichen und psychiatrischen Befunde zeigten, dass der Mann immer noch gesundheitliche Probleme habe. Dazu sei er psychisch angeschlagen, seine Angstzustände würden durch falsche Einschätzung der Tumorgefahr ausgelöst.
Das Gericht teilte die Auffassung eines Gutachtens, wonach der Mann arbeiten könne – «in einer angepassten Tätigkeit». Die IV könne den Handwerker unter Berücksichtigung seiner gesundheitlichen Situation in den Arbeitsmarkt eingliedern. Danach sei eine Revision des Rentenentscheids möglich.
In den vergangenen Jahren ist die Zahl der Beschwerden gegen IV-Verfügungen deutlich gestiegen. Im Jahr 2005 verzeichnete das Verwaltungsgericht noch 520 Eingänge, 2006 waren es bereits 604 und ein Jahr später 843. Diese Zahlen entsprechen aber nicht den materiellen Urteilen, weil Beschwerden teils abgewiesen oder zurückgezogen werden oder in einen Vergleich münden.
Verfahren wurde geändertWarum gab es in diesen Jahren deutlich mehr Beschwerden? Dies sei nicht auf eine restriktivere Haltung der IV-Stellen zurückzuführen, sondern auf ein geändertes Verfahrens, sagt Walter Matti, Präsident der sozialversicherungsrechtlichen Abteilung des Verwaltungsgerichts. Denn von 2004 bis Mitte 2006 musste ein unzufriedener IV-Bezüger gegen den Entscheid der IV-Stelle eine Einsprache machen.
Erst, wenn dies nichts bewirkte, führte der Weg über eine Beschwerde. Diese Vorschrift wurde später wieder aufgehoben. Deshalb war eine Beschwerde wieder die einzige Möglichkeit, eine IV-Verfügung anzufechten. Seit 2011 ist die Beschwerdezahl wieder rückläufig und stand 2012 so tief wie sieben Jahre zuvor.
Gründlichere AbklärungenDer Anteil der ganz oder teilweise gutgeheissenen Beschwerden ist seit Jahren am Sinken. 2005 waren es noch über 50 Prozent aller materiellen Urteile, im letzten Jahr nur noch 35,1 Prozent. Die Gründe dafür seien nicht gesichert, sagt Walter Matti. Ein Grund könnte sein, dass die IV-Stellen die Fälle gründlicher abklären – vor allem medizinisch. Vermutlich halten die Argumente der Verfügungen deshalb einer gerichtlichen Prüfung besser stand.
(Berner Zeitung)